Zeitlimits, Medienkompetenz und das richtige Alter für das erste Smartphone
Viele Eltern versuchen die Anschaffung des ersten Smartphones hinauszuzögern. Sie haben Angst vor Überkonsum und Sucht. Die Psychologin und erfolgreiche Elternbloggerin Patricia Cammarata ist der Ansicht, dass der Zeitpunkt für das erste Gerät nicht zentral ist. Ebenso wenig glaubt sie, dass starre Regeln den Kontrollverlust der Eltern über den Medienkonsum des Kindes aufhalten können. Am wichtigsten sei es, das Kind beim Einstieg in die Medienwelt kompetent zu begleiten.
Viele von uns haben die Prämisse im Kopf, dass Medienkonsum den Kindern in erster Linie schadet. Unterbewusst beeinflussen uns dabei vielleicht diverse Statements von populären Wissenschaftlern wie Manfred Spitzer, die digitale Medien geradezu verteufeln. Spätestens seit der Corona-Krise mussten viele von uns aber über ihren Schatten springen und flexible Lösungen in Kauf nehmen. Wann schadet Medienkonsum wirklich? Und was dürfen Kinder in welchem Alter?
Mit solchen Fragen beschäftigt sich Patricia Cammarata in ihrem Buch „Dreißig Minuten, dann ist aber Schluss!“ Sie plädiert für eher weiche, flexible Vorgaben und möchte Eltern ermutigen, sich lieber anzusehen, was die Kinder eigentlich im Internet machen, als feste Zeitlimits zu setzen. Sie ist sich bewusst, dass dies nicht unbedingt der einfachste Weg ist, da Eltern sich dann damit beschäftigen müssen, was ihre Kinder in der Freizeit machen. „Da Kinder in der Schule aber nur sehr begrenzt Medienkompetenz lernen, im Internet aber bestimmte Regeln gelten, ist es wichtig, dass die Eltern ihre Kinder begleiten“, so Cammarata.
Wie begleiten?
Der Schlüssel zum verantwortungsbewussten Umgang mit digitalen Medien ist eine gute Beziehung zum Kind. Diese zeichnet sich nämlich auch durch eine gute Gesprächsebene aus.
„Nicht alles, was Kinder und Jugendliche im Netz machen, erscheint uns aus Elternperspektive sinnvoll. Trotzdem sollten wir die Interessen respektieren und nicht ablehnen und abwerten, weil die Kinder sonst mit uns irgendwann nicht mehr darüber sprechen wollen, was sie eigentlich im Internet machen. Gerade kleinere Kinder teilen uns gerne mit, was sie gerade im Fernsehen gesehen haben. Solche Angebote sollten wir unbedingt als Chance betrachten“, erklärt die Autorin.
Des Weiteren müssen wir selbst einigermaßen informiert sein, um auf Gefahren im Netz hinweisen zu können. „Puh, anstrengend“ dürften jetzt einige sagen. Es gibt aber doch Möglichkeiten, wie wir als „Digital Immigrants“, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, beinahe nebenher unsere Bildungslücken schließen können. Cammarata informiert zusammen mit dem internetversierten Moderator Marcus Richter in einem Podcast mit dem Titel „Nur 30 Minuten“ auf unterhaltsame Weise Eltern über die Tücken des Internets.



Unterhaltsames und informatives Sachbuch
Patricia Cammarata: Dreißig Minuten, dann ist aber Schluss! Mit Kindern tiefenentspannt durch den Mediendschungel, Köln 2020 (Eichborn), ISBN 978-3-8479-0049-8, 16 Euro.
WhatsApp, Youtube, Instagram, TikTok, Facebook - jeder kennt diverse Messenger und soziale Plattformen. Aber wer weiß schon genau darüber Bescheid, wo genau die Gefahren für den Nachwuchs lauern? YouTube gibt es zwar schon seit 2005. Wir Eltern nutzen YouTube aber meist nur spärlich, während es für Jugendliche heutzutage eine ganz andere Bedeutung hat. Marcus Richter versucht, den Eltern etwas den Druck zu nehmen, indem er feststellt: „Wir müssen nicht mit den Kindern in allem mithalten können. Es geht nicht darum, perfekt zu sein.“
Wann ein eigenes Gerät?
Cammarata und Richter halten die Frage nach dem angemessenen Zeitpunkt für weniger wichtig als die Frage nach der richtigen Begleitung beim Einstieg in die Medienwelt. Laut Statista.com besaßen 2019 bereits dreiviertel der Zehnjährigen ein eigenes Smartphone. „Alle haben schon eins“ ist wohl die häufigste Begründung, mit der Kinder ein eigenes Gerät einfordern. Cammarata rät in ihrem Buch, diese Behauptung zunächst beim Elternabend zu überprüfen. Wenn wirklich über die Hälfte des Freundeskreises ein Smartphone besitze, verlagere sich die Kommunikation ins Digitale und der soziale Druck steige.
Schon vor der Anschaffung sollte der grundlegende Umgang besprochen worden sein, zum Beispiel die Regeln zum Datenschutz, die Gefahren durch Cybermobbing und -grooming und Kostenfallen. Sie verweist auf einen Test auf den Seiten der Elterninitiative „Schau hin!“, anhand dessen Eltern prüfen können, ob das Kind wirklich bereit für ein eigenes Gerät ist.
Zur groben Orientierung gibt sie den Eltern die „3-6-9-12“-Regel an die Hand: Fernsehen möglichst nicht unter drei, eine eigene Spielekonsole nicht unter sechs, ein Smartphone nicht unter neun und freien Zugang zum Internet nicht unter zwölf. Sie räumt ein, dass gerade die „9-12-Grenze“ heutzutage fließend sei und dass die familiäre Konstellation, beispielsweise ältere Geschwister mit Vorbildfunktion, die Regel nicht unbedeutend ins Wanken bringen könnten.
Gar keine Regeln?
Patricia Cammarata möchte Eltern die Angst nehmen, dass Kinder schnell nach digitalen Medien süchtig werden. „Ich gehe davon aus, dass der Konsum digitaler Medien bei meinen Kindern nach der Corona-Krise wieder massiv zurückgehen wird. Wir brauchen im normalen Alltag tatsächlich kaum Regeln, weil einfach wenig Zeit für die Smartphonenutzung bleibt“, berichtet sie. „Ich halte es für wichtig, dass Eltern mit ihren Kindern darüber sprechen, wann das Smartphone benutzt werden darf. Bei uns ist es oft so, dass alle erst die wichtigen Aufgaben wie Hausaufgaben oder Hausarbeit erfüllen müssen, bevor die Zeit für das Handy gekommen ist. Die Kinder wissen, dass sie angemessene Prioritäten setzen müssen und halten sich im Alltag daran.“
Innerhalb der Familie gebe es ein paar Vorgaben, die gleichermaßen für alle gelten würden. Bei gemeinsamen Mahlzeiten sei das Handy nicht mit am Tisch, eine Stunde vor dem Schlafengehen würden alle Geräte an die Ladestation gelegt, weil der Schlaf ohne Telefon länger und ungestörter sei. Aber auch hier gebe es in begründeten Fällen Ausnahmen.
„Fomo“ und Sucht
In ihrem Buch schreibt Cammarata auch über „Fomo“ (Fear of missing out), also die Angst, einen Vorgang im Internet zu verpassen. Von Fomo sind auch viele Eltern befallen, die süchtig nach Likes in den Sozialen Netzwerken sind oder keine WhatsApp-Nachricht verpassen wollen. Sie hält die Vorbildfunktion der Eltern für wichtig, warnt aber auch vor strengen und vorschnellen Urteilen über sich selbst oder andere: „Nicht jede Mutter (oder jeder Vater!), der auf dem Spielplatz das Telefon zückt, darf verurteilt werden, schließlich sehen wir ja nur einen Ausschnitt. Es kann sehr gut sein, dass dieses Elternteil sich in vielen Momenten am Tag liebevoll den Kindern zuwendet.“ Überhaupt sei das Bedürfnis von Eltern, sich auch mal in die digitale Welt zu flüchten, nachvollziehbar.
Letztlich gelte aber für Eltern das Gleiche wie für Kinder: „Wenn das Familienleben unter dem Handykonsum zu leiden beginnt, sollten wir unser Nutzungsverhalten reflektieren und es ändern“, empfiehlt die Autorin. Sie verweist auf Möglichkeiten, die Nutzungszeiten anzeigen zu lassen oder Push-Mitteilungen abzustellen und empfiehlt, aus dem Allrounder Smartphone wieder mehrere Geräte zu machen und sich beispielsweise einen Wecker anzuschaffen.
Wenn der Medienkonsum generell überhandnehme, sollten Eltern sich zuerst fragen, welches Bedürfnis hinter dem hohen Medienkonsum stecke und überlegen, ob dieses Bedürfnis nicht auch durch eine andere Alternative gestillt werden könnte. Solche Bedürfnisse könnten sehr unterschiedlich sein. Würden Kinder exzessiv Computer spielen, könne Sport eventuell eine Alternative sein, weil man auch im Sport seine Kräfte messen kann. Solange sich der Tag eines Jugendlichen aus einem Blumenstrauß an Aktivitäten zusammensetze und dieser nicht psychische Auffälligkeiten zeige, sei der Medienkonsum eher nicht bedenklich. In ihrem Buch zitiert sie zum Thema einen Referenten einer Suchtberatungsstelle, der gesagt habe: „Solange ihr Kind noch aufsteht, um auf die Toilette zu gehen, und nicht in Flaschen pinkelt, um das Spiel nicht zu unterbrechen, kann von schwerwiegender Sucht nicht die Rede sein.“