Sabine Rees, Hanna Gelfert, Sarah Fischer (Mitglieder des Luftballons) und Landtagspräsidentin BW Muhterem Aras.

"Wer schafft schon alles alleine?"

20.12.2023

Der Balanceakt zwischen Familie und Beruf ist für viele Eltern immer noch riesig. Und: da Betreuungsplätze nach wie vor fehlen, steht die Ausübung einer Vollzeit-Berufstätigkeit, insbesondere für Frauen, häufig auf der Kippe. In Deutschland arbeiten laut Zahlen von Statista im Jahr 2023 immer noch 48,7 Prozent der Frauen in Teilzeit, wohingegen der Anteil der Männer bei 11,6 Prozent liegt. Mit großen finanziellen Auswirkungen, wenn sich Paare zum Beispiel scheiden lassen oder beim Aufbau einer adäquaten Altersversorgung. Frauen, die trotz Familie ihre berufliche Karriere nicht aus den Augen verloren haben, können ein Role Model für nachkommende Müttergenerationen sein. Daher haben wir uns mit der Landtagspräsidentin von Baden-Württemberg, Muhterem Aras, unterhalten, die es geschafft hat, sich trotz Kinder und Beruf auch noch in der Politik zu engagieren.

Frau Aras, wenn man sich mit Ihrer Vita ein bisschen näher beschäftigt, wird deutlich, dass Ihnen Bildung, beruflicher und später auch Ihr politischer Aufstieg immer schon wichtig waren. Wie kam das?

Meine Mutter war eine ganz prägende Person für mich, nicht nur für meine berufliche Entwicklung. Sie ist in Ostanatolien aufgewachsen und durfte als Mädchen keine Schule besuchen. Das war ihr ein Leben lang ein Dorn im Auge und sie hat es ihrem Vater bis an ihr Lebensende nicht verziehen, dass er ihr diesen Bildungsweg verschlossen hat. Deshalb war es ihr extrem wichtig, dass ihre Kinder, vor allem die Mädchen, ein selbstbestimmtes Leben führen können, unabhängig von einer Ehe. Grundlage dafür war für sie immer eine gute schulische und später berufliche Ausbildung. Diese Stimmung haben wir Geschwister sehr früh mitbekommen. Unsere Eltern investierten, nachdem sie nach Deutschland gekommen sind, jeden Pfennig, der damals in der Haushaltskasse übrig war, in die Bildung ihrer Kinder und nicht in den Aufbau von Vermögen in der Türkei.

Hatten Sie einen konkreten Plan, um das zu erreichen?

Schon bevor die Kinder auf der Welt waren, habe ich mich während meines Studiums der Wirtschaftswissenschaften mit der Frage befasst, wie eine Tätigkeit in diesem Bereich aussehen könnte, die gleichzeitig auch noch ein Familienleben ermöglicht. Bei einer Beratung mit Personalverantwortlichen dreier großer Unternehmen hier im Raum Stuttgart wurde schnell deutlich, dass es in der damals noch sehr ausgeprägten Anwesenheitskultur (Mitte der 90er Jahre) schwierig werden würde, in so einem Unternehmen Karriere zu machen und gleichzeitig ein Familienleben zu organisieren. Eine Personalerin gab mir damals im Gespräch die Empfehlung, im Hauptstudium das Fach Steuerrecht zu vertiefen und Steuerberaterin zu werden. Ihr Tipp war, dass sich dies sehr gut in jeder Position mit einer Familie vereinbaren ließe. Das war die Initialzündung für die Idee, eine eigene Steuerberatungskanzlei zusammen mit meinem Mann zu gründen.

Gab es dann auch Erwartungen an Sie und Ihre Geschwister?

Meine Eltern haben immer gesagt: Ihr dürft alles, was Eure Schulfreunde und Schulfreundinnen dürfen. Das einzige, was wir von Euch erwarten, sind Anstand, Fleiß und gute Noten.

Ihrer Mutter war es wichtig, dass die Töchter erst auf eigenen Füßen stehen, bevor sie heiraten. Dennoch haben Sie sich schon sehr früh für eine Ehe und später auch Kinder entschieden?

Ich habe tatsächlich schon mit 20 Jahren geheiratet. Damals war ich in der elften Klasse auf einem Wirtschaftsgymnasium. Meine Mutter war zunächst entsetzt. Aber ich hatte ihr versprochen, ich mache Abitur und werde studieren, was ich dann auch gemacht habe. Ich wollte meine Eltern, die in ihrer Weitsichtigkeit so viel für ihre Kinder investiert hatten, auf keinen Fall enttäuschen. Dennoch bestand bei mir auch schon früh der Wunsch, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben, aber eben auch wirtschaftlich unabhängig zu sein.

Im Jahr 2000 haben Sie das umgesetzt, damals mit sehr kleinen Kindern. Wie haben sich Ihr Mann und Sie in dieser Zeit organisiert?

Mein Mann und ich hatten ein klares gemeinsames Ziel vor Augen - die Kanzlei zu gründen. Darauf haben wir unser gemeinsames Leben ausgerichtet. Auf dem Weg dahin gab es einige Hürden zu überwinden. Unter anderem bin ich durch die erste Steuerberatungsprüfung sehr knapp durchgefallen und es war klar, dass ich mehr Zeit zum Lernen brauchte. Das habe ich mit meinem Mann besprochen und wir haben gemeinsam vereinbart, dass er mir den Rücken frei hält und den Haushalt übernimmt. Er war also in der Vorbereitungsphase zur zweiten Prüfung ausschließlich für unsere kleine Tochter und den Haushalt zuständig, während ich in der Bibliothek Gesetzestexte büffelte. Auch als ich mich zunehmend politisch engagiert habe, hat mein Mann sein politisches Engagement zurückgefahren. Um gemeinsam die Kanzlei aufzubauen und zu führen, waren wir auf die Hilfe von Eltern und Familie angewiesen. Meine Eltern haben uns sehr unterstützt und sogar ihren Wohnsitz nach Stuttgart verlegt, damit sie zum Teil auch abends bei den Kindern sein konnten. Und: wir hatten eine super Kinderbetreuung in einer Eltern-Kind-Gruppe, über die sich viele Kontakte und dadurch auch gegenseitige Unterstützung unter den Eltern entwickelt haben. Aber auch Freunde und Nachbarn gehörten zu unserem Unterstützungsnetz, das wir nach und nach gesponnen haben. Oft hat man das Gefühl, dass es gesellschaftlich erwartet wird, dass man alles alleine schafft. Es ist doch die Frage: Wer schafft alles alleine? Ganz klar - Niemand! - Es ist wichtig, dass sich Eltern Unterstützung holen und Hilfe auch annehmen, wenn sie ihnen angeboten wird!

Frauen müssen sich auch heute noch rechtfertigen, wenn sie mit kleinen Kindern arbeiten gehen. Aber auch das Gegenteil ist der Fall. Wie waren hier ihre Erfahrungen?

Das Familienbild Mann als Ernährer, Frau kümmert sich um die Kinder, war lange vorherrschend. Dass die nicht bezahlte Arbeit, die vor allem nach wie vor Mütter leisten in unserer Gesellschaft, nicht wertgeschätzt wird, ist überholt und unfair – ebenso wie die teilweise Anfeindung von Müttern, die erwerbstätig sind. Als ich mit unserem Sohn schwanger war, kam im Gemeinderat schon die eine oder andere Bemerkung auf, dass ich die Tätigkeit dort sicher nicht weiterführen könne, einfach, weil man Frauen, die schwanger waren oder kleine Kinder hatten, dies nicht zutraute und üblich war es eben nicht. Klar, auch unsere Kinder waren nicht immer begeistert, wenn ich zum Beispiel während der Wahlkampfzeiten in langen Phasen nur sehr wenig zu Hause war. Mein Sohn hat mal zu mir gesagt: „Mama, kannst du nicht eine normale Mama sein?“. Das hat im ersten Moment natürlich weh getan, aber ich habe den Kindern erklärt, das einer von uns immer für sie da ist. Und gerade ist das der Papa. Wichtig ist, dass eine Bezugsperson immer da ist. Zudem war immer selbstverständlich: wenn sie mich oder meinen Mann wirklich brauchen, sind wir jederzeit für sie da. Das Wichtigste ist doch, dass die Kinder in ihrer Familie Geborgenheit erleben, diese ist nicht unbedingt abhängig von der Zeit, die man gemeinsam mit ihnen verbringt.

Was raten Sie jungen Eltern, die in die Phase der Familiengründung kommen? Wie sollen sie den Spagat zwischen Berufstätigkeit und Familienleben meistern?

Es gibt hier sicher keine Patentlösung, die für alle Familien gilt. Jede Familie muss für sich selbst entscheiden, wie lange und wer für die Kinder zuhause bleibt, ob man auch schon für kleine Kinder Fremdbetreuung in Anspruch nimmt oder nicht. Und diese Entscheidung – egal wie sie fällt - gilt es dann als Gesellschaft zu respektieren und zu akzeptieren. Es ist es aber auch wichtig zu delegieren – gerade, aus meiner Sicht, für Frauen

Stichwort Kinderbetreuung: Auch in BadenWürttemberg fehlen in großer Zahl Betreuungsplätze für Kinder in allen Altersklassen, auch in Ihrem Wahlkreis in Stuttgart I. Immer noch ist die Vereinbarkeit daher ein Thema, das häufig privat gelöst werden muss.

In der Tat, die Gesellschaft und die Politik müssen die Rahmenbedingungen setzen, damit echte Wahlfreiheit besteht. Die Einsicht in der Politik ist da, dass der Ausbau von Kinderbetreuung wichtig und richtig ist. Das war in den 90er Jahren ja noch ganz anders. Als ich damals im Gemeinderat einen Antrag für Betreuung für unter Dreijährige gestellt habe, wurde man noch behandelt wie von einem anderen Stern. Auch Geld für den Ausbau ist mittlerweile ausreichend da. Was uns fehlt, sind die Fachkräfte. Hier wurde von der Landesregierung zum Beispiel durch die Veränderung von Ausbildungsgängen (Stichwort: Praxisintegrierte Ausbildungsgänge/PiA), bei denen schon während der Ausbildungsphase Geld verdient werden kann, versucht, einen Beitrag zu leisten. Weiteres muss folgen: zum Beispiel die schnellere Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen. Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass man durchaus auch andere Berufsgruppen für die Arbeit in den Kitas zulassen könnte für Tätigkeiten, für die nicht unbedingt eine Erzieherin oder ein Erzieher notwendig sind. Diese wären dann eine Entlastung für die pädagogischen Fachkräfte, damit diese für ihre eigentliche Arbeit, die Begleitung und Förderung der Kinder, mehr Zeit haben.

Liebe Frau Aras, wir bedanken uns für das Gespräch.

„Es ist wichtig, dass sich Eltern Unterstützung holen und Hilfe auch annehmen, wenn sie ihnen angeboten wird!“

Muhterem Aras, Landtagspräsidentin

Muhterem Aras, geboren 1966 in Ostanatolien, verheiratet, 2 Kinder. Kam im Alter von 12 Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Sie wuchs mit drei Brüdern und einer Schwester in Filderstadt/ Sielmingen auf. Während des Studiums der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim begann sie Anfang der 1990er Jahre, sich politisch bei den Grünen zu engagieren. 2000 gründete sie ihr eigenes Steuerberaterbüro in Stuttgart und machte weiterhin politisch Karriere. Seit 2011 ist sie Abgeordnete im Landtag von Baden-Württemberg (sie vertritt den Wahlkreis I in Stuttgart). 2016 übernahm sie das Amt der Landtagspräsidentin von Baden-Württemberg, welches sie bis heute innehat. Zu ihren bestimmenden Themen gehören die Verteidigung der Demokratie und der Werte des Grundgesetzes, das Werben für die parlamentarische Demokratie, Heimat, Geschlechtergerechtigkeit und Gedenk- und Erinnerungsarbeit.