
Warum Singen so wichtig ist
Singen tut gut. Viele haben es schon längst für sich entdeckt: Singen könnte vieles im Leben schöner machen. Sollte es so kommen, dass wir den kommenden Herbst und Winter ohne Gesang überstehen müssen, wären die Berufskünstler*innen am schlimmsten davon betroffen. Sie könnten ihren Beruf nicht ausüben und ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Doch viele Hobbysänger werden das Singen ebenfalls schmerzhaft vermissen.
Noch ist es unklar, ob und wenn ja, für wie lange in diesem Herbst die Lieder in Schulen, Vereinen, Kirchen und Kitas erklingen, die die Gemüter zum Schwingen bringen. Das hört sich erstmal nicht überlebenswichtig an, es macht aber viel aus.
Gudrun Kohlruss hat ein Gesangsstudium absolviert und ist seit vielen Jahren als freischaffende Sängerin national und international als gefragte Sopranistin verpflichtet. Seit langem ist sie die künstlerische Leiterin des Belcanto Kinder- und Jugendchores.



Aktuelle Forschungen zum Abstandsgebot beim Singen
Zurzeit wird noch tüchtig geforscht, wie man unter Pandemiebedingungen dennoch weitersingen kann, wie zum Beispiel Prof. Christian J. Kähler vom Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik an der Bundeswehr Universität in München und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Rainer Hain. Sie haben über Infektionsrisiken beim Chorsingen und Musizieren mit Blasinstrumenten geforscht und ihre Experimente haben gezeigt, „dass die Luft beim Singen nur im Bereich bis eine halben Meter vor dem Mund in Bewegung versetzt wird, unabhängig davon, wie laut der Ton war und welche Tonhöhe gesungen wurde. Eine Virusausbreitung über die beim Singen erzeugte Luftströmung ist daher über diese Grenze hinaus äußerst unwahrscheinlich. Die geringe Ausbreitung der Luftbewegung ist laut Prof. Kähler nicht verwunderlich, denn beim Singen wird ja kein großes Luftvolumen stoßartig ausgestoßen, wie etwa beim Niesen, Husten oder Pusten. In einem Chor oder in der Kirche sollte trotzdem ein Sicherheitsabstand von mindestens eineinhalb Metern eingehalten werden, um sich auch dann wirksam vor einer Tröpfcheninfektion zu schützen. Darüber hinaus ist eine versetzte Aufstellung der Sängerinnen und Sänger immer dann empfehlenswert, wenn der Chor aus mehreren Reihen besteht.“
Andere Wissenschaftler halten etwas größere Abstände für sinnvoller, wie auch Prof. Matthias Echternach, der Leiter einer wissenschaftlichen Studie, die der Bayerische Rundfunk gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Erlangen und dem LMU Klinikum München durchgeführt hat. „Wenn wir jetzt über Abstandsregeln nachdenken, können wir sagen: zwei bis zweieinhalb Meter nach vorne sollte sehr wahrscheinlich ausreichend sein, zur Seite sollten eineinhalb Meter reichen - sofern die Aerosole immer wieder entfernt werden! Und dieses Entfernen ist an der frischen Luft kein Problem. Aber im geschlossenen Raum könnte es zum Problem werden. Wenn man eine kontinuierliche Durchlüftung hinbekäme, dann könnte man sich wahrscheinlich an den normalen Probenzeiten orientieren. Wenn man das nicht gewährleisten kann, muss man regelmäßig eine Stoßlüftung hinbekommen, am besten alle zehn Minuten“, sagt Prof. Echternach.
So prüft das Kultusministerium Baden-Württemberg immer noch wissenschaftliche Lösungen, wie das Singen und Musizieren an Schulen ermöglicht werden kann. „Die Nutzung von größeren, stets gut gelüfteten Räumlichkeiten, abseits der Enge der Klassenräume, könnte möglicherweise eine Option sein“, so Benedikt Reinhart, der Pressereferent des Kultusministeriums. Manche Chorleiter sehen die Perspektive erst mal auch in großen Proberäumen und virtuellen Chorproben, gelegentlich auch Mini-Ensembles für Gottesdienste, kleine Chor-Gruppen oder auch mehr Arbeit an der Stimmbildung.
Singen in der Familie als Alternative
Sollte jedoch das schlimmste Szenario eintreten und sollte uns ein Herbst ohne Singen in der Schule oder AGs erwarten, sieht die Musiktherapeutin Beise eine gute Möglichkeit im Privaten, dass Eltern sich zutrauen, mit den Kindern zu singen. Beise würde allen Menschen das Singen ans Herz legen, ungeachtet dessen, ob sie sich für musikalisch halten oder nicht. „Musik kann froh machen, wenn ich mich nicht unter Druck bringen lasse und wenn es keinen Zwang dazu gibt“, erklärt sie. Musik habe einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Gefühle. Gemeinsam zu musizieren könne verbinden und Zugehörigkeit fördern.
Davon kann man ja in einer Familie nie genug haben. Und sollte es dazu kommen, dass wir wieder wochenlang nur unsere Familie als Gesellschaft um uns haben, erst recht. Deswegen ist es umso erfreulicher, von einer Musiktherapeutin zu hören, dass Musik auch Trost spenden oder Gefühle ausdrücken kann, wenn Worte fehlen. Dabei sei es unwichtig, ob man musikalisch sei oder nicht. Andererseits sei es auch möglich, die Stimme zu verbessern, sagt Beise. Sowohl physisch durch Übungen als auch psychisch – „weil das Singen von Liedern, egal aus welchem Genre, nicht nur eine physische Tätigkeit ist, sondern auch viel mehr mit Imagination, Vorstellungen und Gefühlsregungen zu tun hat“, erklärt Beise.
Es wäre also spätestens jetzt an der Zeit, die Familienliederbücher herauszuholen. Oft ist es auch so, dass wer am schlechtesten singt, das Publikum am besten amüsiert. Sollte das gemeinsame Singen nicht klappen – gemeinsam lachen soll ja auch verbinden.

Chorsingen fördert Entwicklung
Singen verbessere die Sprache, die Stimme, die Atmung, die Lese- und Rechtschreibung, das Wohlbefinden, die Konzentration und die soziale Kompetenz – steht auf der Webseite von Belcanto. „Viele wissenschaftliche Studien liegen vor, wie wichtig Singen für die Entwicklung ist“, erklärt die Chor-Leiterin. „Singen ist ein ursprüngliches und natürliches Bedürfnis – sich auszudrücken, Spaß und Freude mittels Tönen und Liedern zum Ausdruck zu bringen.“ Außerdem sei bekannt, dass Musik und insbesondere das Singen für die Gesamtentwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung ausschlaggebend sind und die Leistungsfähigkeit fördert. Unter anderen werden beim Singen beide Gehirnhälften gefordert und überhaupt werden dadurch die Gehirntätigkeit und Emotionen in Einklang gebracht, so Kohlruss. Gleichzeitig sei Singen eine Schulung für gutes Atmen.
Schwierige Suche nach Proberäumen
Im Sommer konnten Frau Kohlruss und der Chor Belcanto noch draußen auf öffentlichen Plätzen proben. Doch bald ist es kalt und nass und viele Chöre und Schulen hoffen auf passende Proberäume, die auch für das Singen während einer Pandemie geeignet sind. Sollten sie keine bekommen oder sollte das Singen außerhalb der Familie auf Grund der pandemischen Situation gar untersagt werden, wäre das eine große Katastrophe für die Kinder und Jugendlichen, meint die Chorleiterin. „Und natürlich auch für mich als Chorleiterin. Dass ausgerechnet Singen eine Gefahr für die Gesundheit darstellt, ist unglaublich, aber nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse leider Realität. Mir würden natürlich alle Kinder, alle Sängerinnen und Sänger fehlen und das gemeinsame Singen ist für uns alle wichtig“, so Kohlruss.
Singen als Grundbedürfnis
Warum Singen so wichtig ist, erklärt für den Luftballon Ulrike Beise. Sie ist Musiktherapeutin auf der Palliativstation im Katharinen Hospital Stuttgart und hat eine eigene Praxis für Musiktherapie in Stuttgart-Hofen (www.stimmklang.com). Als Musikpädagogin mit jahrelanger Erfahrung als Sängerin, Gesangspädagogin und Musikkabarettistin betont sie: „Singen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Rein physikalisch bringt das Singen unseren Körper in Schwingung. Das bedeutet, unser Körper wird gelockert und sozusagen von innen massiert. Wir beobachten, dass Kinder und Erwachsene auch singen, wenn sie Angst haben, weil es beruhigt. Ebenso setzt das Singen Endorphine frei, so dass wir tatsächlich sagen können, dass es froh macht.“ Wichtig sei, dass man angstfrei und ohne Leistungsdruck singen dürfe. Zu guter Letzt sei das Singen auch ein Gemeinschaftserlebnis, indem sich die Singenden miteinander verbunden fühlen, so Beise.
All dies fiele weg, sollte es in diesem Schuljahr so kommen, dass Singen in der Schule oder auch im Verein nicht möglich ist. Dies beschreibt auch Chorleiterin Kohlruss: „Den Chor-Kindern würde das gemeinsam Singen fehlen. Die Gemeinschaft, mit den anderen zu singen, Musik aktiv umzusetzen, sich mittels Gesang auszudrücken – das können Eltern nicht ersetzen.“

