Hilfe, mein Kind flippt aus

Mädchen liegt auf dem Boden und weint.
© iStock Jelena Stosic

Ein Kleinkind liegt schreiend auf dem Boden, das kleine Gesichtchen mit Tränen überströmt, schlägt es um sich vor Wut. Völlig aufgelöst, scheint es seine Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Viele Eltern kennen solche Situationen nur allzu gut - im Volksmund Trotzphase genannt. Im Gespräch mit Diplom-Sozialpädagogin Sabine König haben wir diese Phase der Ich-Entwicklung genauer beleuchtet und dabei erfahren, weshalb hier die Weichen für das weitere Leben unserer Kinder gestellt werden und was wir als Eltern tun können, um sie hierbei bestmöglich zu begleiten.

Entdeckung und Kampf um das eigene Ich

Erste Anzeichen der Trotzphase lassen sich laut Sabine König bereits zwischen dem 12. und 15. Lebensmonat der Kleinen feststellen: „In dieser Zeitspanne beginnt die Ich-Entwicklung – die Entdeckung und der Kampf um das eigene Ich. Bis dato nehmen sich die Kinder nicht als eigenständige Persönlichkeiten war, sondern leben in völliger Symbiose mit den Eltern.“ Mit einem Mal aber treten Wünsche, Vorstellungen und eigene Bedürfnisse auf den Plan. Die kleinen Individuen wollen gesehen und gehört werden. Erstmals äußern sie, mitunter auch recht lautstark, was sie ihrer Meinung nach gerade brauchen.

Auslöser der Trotzanfälle ist dann häufig das Bestreben, den eigenen Willen durchsetzen zu wollen. Aber auch Eifersucht, Enttäuschung, Angst, Unzufriedenheit mit sich selbst oder den eigenen Fähigkeiten sowie Frustration über Bevormundung und hin und wieder einfach auch der Spaß am Nein-Sagen können als Trigger fungieren. So endet nicht selten der Versuch, sich selbständig die Winterjacke anzuziehen, im tränenreichen Fiasko aufgrund der noch unzureichenden Fähigkeiten, einen Reißverschluss korrekt zu schließen.

Wie das Kind, so der Trotz

Die Ausprägungen eines Trotzanfalles sind dabei so individuell wie das dazugehörige Kind und dessen Lebensumstände. „Die Trotzphase gibt es schon immer und in jedem Kulturkreis“, weiß König. Wie sie sich aber äußert, hängt von vielen Stellschrauben ab. Beispielsweise spielt die geschichtliche Epoche, verbunden mit dem entsprechenden Erziehungsstil eine wichtige Rolle. Hat das Kind die Möglichkeit, seine Persönlichkeit frei zu entfalten? Werden seine Bedürfnisse gehört? Darf es ohne Angst seinen Gefühlen Ausdruck verleihen?

Baby vor einem grauen Hintergrund. Recht daneben befindet sich eine Gedankenblase mit Zeichnungen darin z.B. ein Schnuller und die Sonne.

Auch die Lebensrealität der Bezugspersonen oder situationsbedingte Gegebenheiten beeinflussen den Trotz. So reagieren müde, hungrige Kinder häufig schneller gereizt. Eltern mit nur einem Kind haben eventuell mehr Kapazitäten, den Grund für einen Anfall zu hinterfragen und entsprechend auf das Kind einzugehen, als dies in kinderreicheren Familien möglich ist. Letztlich prägt jedoch vor allem der Charakter des Kindes und dessen Anpassungsfähigkeit die Art und Weise der Trotzanfälle.

„Manche treten, beißen oder schlagen, andere wiederum suchen extrem die Nähe zu ihren Bezugspersonen, wollen gehalten oder getragen werden“, verdeutlicht König und ergänzt: „Es kommt auch vor, dass die Kleinen in rhythmische, sich wiederholende Bewegungsmuster verfallen, einnässen, sich übergeben oder sogar in Ohnmacht fallen. Aber so unterschiedlich das Verhalten der Kinder in dieser Phase auch sein mag, eines ist ganz typisch – das Trotzereignis geht mit großer Not und Verzweiflung einher. Es wird extrem viel Energie freigesetzt und die Kinder sind völlig desorientiert, vergessen sich und verharren unerreichbar in ihrem Status. Außerdem steckt hinter diesem Verhalten keine böse Absicht, es ist also nicht zielgerichtet.“

Im zweiten Lebensjahr intensivieren sich die Trotzszenarien, befeuert durch die Erkenntnis von Eigentumsverhältnissen wie „Mein“ und „Dein“. Teilen ist plötzlich doof, Abgeben kommt überhaupt nicht in Frage. Außerdem verstärkt sich die Vorstellungskraft der Kinder und die Fantasieentwicklung beginnt. Ab jetzt können sie sich in bestimmte Situationen extrem gut hineinfühlen, was auch dazu führen kann, dass sie sich bestimmte Dinge einbilden. All das bedeutet zusätzlichen Stress, was wiederum gesteigerte Wut und intensivere Trotzphasen zur Folge hat, die mit etwa zweieinhalb Jahren ihren Höhepunkt erreichen.

Danach werden die einzelnen Anfälle kürzer, die Auseinandersetzungen differenzierter und klarer. Die Kinder sind nun zugänglicher und können besser definieren, was sie wollen, wodurch die Eltern deren Bedürfnisse besser deuten können. Mit dreieinhalb bis vier Jahren endet schließlich die Trotzphase. „Natürlich gibt es in der Folge immer noch Wut und Zorn“, macht König klar. „Weil aber unter anderem die sprachlichen Fähigkeiten zunehmen, werden die Wutanfälle nun bewusst als Instrument zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt. Darüber hinaus entfällt die zuvor typische Desorientierung.“

Trotz – die Generalprobe fürs Leben

Durch die Phase der Ich-Entwicklung werden also erstmals eigene Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen definiert Vor allem aber dient dieser Prozess laut der Expertin dazu, Verhaltensweisen für das weitere Leben und die soziale Interaktion zu erlernen: „Im Trotz üben Kinder bestenfalls Anpassungslernen, Impulssteuerung und Frustrationstoleranz.

Die Aufgabe von uns Eltern ist es dabei, Kinder zu stärken und mit Handlungsskripten auszustatten. Wir müssen unerwünschtem Verhalten während der Trotzphase so begegnen, dass sie später in ihrem Umfeld zurechtkommen.“ Und genau hier lauern auch Fallstricke im Hinblick auf den Umgang der Eltern mit diesen Herausforderungen. So ist das Bestreben, einen Trotzanfall mit aller Macht zu vermeiden, mitunter kritisch. König erklärt das anhand einer alltäglichen Beispielsituation: „Während eines Supermarkteinkaufs verlangt das Kind nach einem Eis, welches aufgrund der Umstände nicht sofort verfügbar ist.

Konzentrieren sich die Eltern nun ausschließlich darauf, aus Angst vor einer Eskalation diese zu umgehen, tun sie alles, damit das Kind nicht zu schreien beginnt. Es wird verhandelt, versprochen, abgelenkt. Diese Unsicherheit der Eltern, nehmen Kinder unbewusst als negative, möglicherweise sogar persönlichkeitsdestabilisierende Rückmeldung wahr, was wiederum direkte Auswirkungen auf deren Verhalten hat. Entweder schreien sie nun erst recht oder sie verinnerlichen den Leitspruch „bloß nicht schreien“.

Zur Person:

Sabine König ist diplomierte Sozialpädagogin und Mutter von zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen. Das Leistungsspektrum ihrer Praxis in Stuttgart-Weilimdorf umfasst u.a.:

Portrait von S. König

Hilfestellungen bei Beziehungs- und Erziehungsfragen, Supervision und Coaching, Fort- und Weiterbildungsangebote sowie Beratungs- und Unterstützungsangebote zu den Fragen der Säuglings- und Kleinkindzeit.

koenig-s-kinder.de

Tipps für den Umgang mit dem Trotz

Hier schlägt die Diplompsychologin den Bogen zur häufig falsch verstandenen bedürfnisorientierten Erziehung. Deren Grundgedanke ist es, dass die Bedürfnisse aller Familienmitglieder dieselbe Bedeutung und Wertigkeit haben. Um diese zu erfüllen, ist ein Ausbalancieren der unterschiedlichen Erwartungen und Wünsche erforderlich. Steht ausschließlich das Bedürfnis des Kindes im Mittelpunkt beziehungsweise kann es immer und ungehindert seinen eigenen Willen ausleben, zentralisiert es sich zu sehr.

„Kinder lernen von und mit uns“, macht sie deutlich und fährt fort: „Wir müssen ihnen den Raum geben, damit sie ihre Bedürfnisse ausleben können und gleichzeitig Wirkungsstrategien erlernen, um sich im Leben und im Umgang mit anderen zurechtzufinden.“ Aus dieser Maxime leitet sie auch die goldene Regel für das elterliche Verhalten während der Trotzphase ab: „Erwachsene müssen Orientierung geben, denn Kinder brauchen Nähe, sowie ein klares, verbindliches Verhalten, das Sicherheit und Stabilität vermittelt - eine verlässliche Instanz, den sprichwörtlichen Fels in der Brandung.“

Leider gibt es kein Patentrezept für den richtigen Umgang mit Trotzanfällen und dennoch lassen sich einige allgemeingültige Handlungsempfehlungen festhalten. Dazu gehört zunächst einmal, sich als Eltern nicht durch die Extremsituation verunsichern zu lassen, sondern versuchen, ruhig zu bleiben. Darüber hinaus ist es nicht ratsam, während der akuten Trotzsituation zusätzlichen Druck beispielsweise durch Festhalten oder eingeforderten Augenkontakt auszuüben. Auch Maßregelungen oder Bestrafungen sollte man vermeiden.

Zielführender ist es vielmehr, sich ein, auf das Kind individuell zugeschnittenes, ritualisiertes Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten anzueignen. Das kann bedeuten, für kurze Zeit gemeinsam den Raum oder die Situation zu verlassen beziehungsweise zu verändern. Wichtig hierbei ist es, das Kind nicht alleine zu lassen, sondern als stabile Vertrauensperson zu fungieren und nicht aus der Situation zu fliehen. Andere hingegen fordern Trost und Anteilnahme, wollen umarmt und gehalten werden.

Möglicherweise gelingt es auch, Trotzanfälle zu kanalisieren oder abzufangen, indem Mama und Papa sich viel Zeit nehmen und lernen, ihr Kind und seine Bedürfnisse richtig zu lesen. So können sie Rückmeldung auf die Bedürfnislage des Kindes geben und das Kind hat wiederum keinen Grund zu schreien. „Die Ich-Findung muss zwar auf jeden Fall gelebt werden, aber Schreien ist hierfür nicht zwangsläufig notwendig“, so Sabine König.

Wie aber nun reagieren, wenn das Kind an der Supermarktkasse lautstark und unmissverständlich nach dem nicht vorhandenen Eis verlangt? Im Falle einer sicheren und verlässlichen Beziehung weiß das Kind um die Liebe und das Verständnis seiner Eltern. Daher wird das „Nein“ laut König nicht als Bedrohung, sondern vielmehr als Kommunikationsangebot wahrgenommen – es lädt zur Interaktion ein. Denn Regeln, Grenzen und Verbote dienen zur Überprüfung der Belastbarkeit der Beziehung.

Das Kind hat Spaß an der Reibung und lernt im Konflikt mehr als in der Harmonie. Wichtig ist dabei, dass die Regelverantwortung beim Erwachsenen liegt, welcher mittels Präsenz statt übermäßig vieler Worte erzieht. Die Kinder wiederum reagieren auf die Kommunikationsatmosphäre und überprüfen für sich, ob der Erwachsene ernst zu nehmen ist. Einfache, kurze Sätze, die die positive Verhaltenserwartung beschreiben, sind zielführender als inflationäre Wiederholungen. Hektik und Stress hingegen nehmen der Botschaft ihre Ernsthaftigkeit. Außerdem sollte auf Wünsche und leere Drohungen ohne Konsequenzen oder Lautwerden verzichtet werden und stattdessen klare Verbindlichkeit vermittelt werden.