Auf dem Bild sieht man eine Frau und ein kleines Mädchen gemeinsam sportliche Übungen machen. Das Kind schwebt, an Seilen befästigt, über dem Boden.
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Sensorische Integration

01.11.2019

Fühlen wie der Stift in meiner Hand liegt, auf einem Bein stehen ohne umzufallen – bei solchen und anderen Sinnesleistungen ist es wichtig, dass eingehende Reize vom Gehirn gut verarbeitet werden, also die sensorische Integration funktioniert. Es gibt sogar eine Therapieform, die bei Problemen bei der Verarbeitung eingehender Sinnesleistungen helfen kann.

Die Sensorische Integrationstherapie (SI-Therapie) ist eine von mehreren Therapieformen, die vor allem Ergotherapeuten anwenden. Sie wurde von der US-Amerikanerin Anna Jean Ayres begründet, Entwicklungspsychologin und Ergotherapeutin. Ihre Studien aus den 1970ern mit Kindern mit Lerndefiziten ergaben, dass Störungen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinnesreizen ursächlich sein könnten. Als „Sensorische Integration“ wird unter Fachleuten die Wahrnehmungsleistung unseres Gehirns bezeichnet, das Sinnesreize aufnimmt und einordnet. Ayres ging es weniger um Sehen, Hören und Riechen, sondern vor allem um die Nahsinne, wie den Tast- und Berührungssinn, den Gleichgewichtssinn und den Kraft- und Bewegungssinn.

Kinder, die solche Reize angemessen aufnehmen und verarbeiten können, fallen nicht um, wenn sie auf einem Bein stehen, da der Körper durch eine angemessene Reaktion das Ungleichgewicht ausgleicht. Manche Kinder, deren Reizaufnahme in den frühen Lebensjahren gestört worden sei, würden sich motorisch unangemessen verhalten. Manche von ihnen würden sogar Lernstörungen aufweisen, andere sind anderweitig verhaltensauffällig, so Ayres Theorie.

Der Therapie-Alltag

Susanne Heinl, Ergotherapeutin in der Ergopraxis Esslingen, hat jahrelange Erfahrung mit der SI-Therapie. Sie berichtet, wie manche Kinder zu ihr kommen und Probleme mit der Körperwahrnehmung hätten. Manche von ihnen könnten nicht gut ihr Gleichgewicht halten, bei anderen sei die taktile Wahrnehmung gestört, sie könnten beispielsweise kein Pflaster auf der Haut, kein Essen oder keine Farbe an den Fingern ertragen.

Mit solchen Kindern könne sie manchmal schnell Erfolge erzielen, durch Gleichgewichtsübungen in der Hängematte oder das Experimentieren mit ihnen angenehmen Materialien wie Ton oder Malseife. Manche würden dadurch sogar ihre schulischen Leistungen verbessern können.

Ein Mädchen sei mit zweieinhalb Jahren zu ihr gekommen und nur auf den Zehenspitzen gelaufen. Heinl habe es zweimal wöchentlich behandelt und seine Körpereigenwahrnehmung unter anderem durch das Bälle- oder Bohnenbad stimuliert. Das Kind sei im Bohnenbad gesessen und mit dem ganzen Körper eingetaucht oder habe darin Gegenstände erspürt.

Auch wenn sie die SI-Therapie für erfolgversprechend hält, räumt sie ein, dass es auch Kinder gibt, bei denen nur kleine Erfolge erreicht werden können, wie bei anderen Therapieformen auch.

Kritik an der SI-Therapie

Die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) hat sich 2002 in einer Stellungnahme kritisch zur SI-Therapie geäußert. Auch wenn diese etwas in die Jahre gekommen ist, sei sie in wesentlichen Punkten noch aktuell, so der Vorstand der GNP. Hauptkritikpunkt ist, dass Begründerin Ayres von inzwischen überholten entwicklungspsychologischen Voraussetzungen ausgegangen sei.

Außerdem sei es bisher nicht gelungen, die Existenz solcher „neurophysiologisch begründeter“ Verarbeitungsstörungen sensorischer Informationen überzeugend nachzuweisen. Trotz aller Kritik räumt die GNP aber ein, Elemente der SI-Therapie könnten durchaus für Ergotherapeuten eine Bereicherung sein, dabei helfen, einen guten Zugang zu Kindern zu finden oder deren Handlungskompetenz und Selbstsicherheit zu verbessern. Es gebe aber keine Studien, die überzeugend nachweisen könnten, dass die SI-Therapie bei verhaltensauffälligen oder lerngestörten Kindern Erfolge erziele.

Der Deutsche Verband der Ergotherapeuten (DVE) greift diese Kritik auf. Ayres‘ Erkenntnisse würden einer differenzierten Betrachtung unterzogen. Der DVE plädiert dafür, dass alle, die die SI-Therapie anwenden, eine fundierte Ausbildung absolviert haben sollten. Laut dem DVE ist es unbestritten, dass sensorische Verarbeitungsprozesse eine elementare Bedeutung haben.