Mehrere Kinder stehen bei der Hauptprobe von Bach Bewegt nebeneinander im Chor und singen zusammen.
©Holger Schneider

Musik entdecken an der Bachakademie

28.11.2022

Seit sechs Jahren bietet die Internationale Bachakademie Stuttgart unter Leitung von Prof. Hans-Christoph Rademann das Kinder- und Jugendprogramm BachBewegt! an. Anne Kraushaar sprach mit der Musikvermittlerin Nina Amon über die einzelnen Projekte und darüber, wie klassische Musik für Kinder und Jugendliche eine Bedeutung bekommen kann.

Mit dem Angebot BachBewegt! Singen! geht die Bachakademie an Grundschulen und unterstützt Lehrer dabei, mit ihren Klassen eine Chor-Aufführung zu erarbeiten. Nach welchen Kriterien wird das Stück ausgewählt?

Wir wählen immer ein bestimmtes Werk aus dem Saisonprogramm der Bachakademie aus und vergeben dann den Auftrag, es noch einmal in einer Version für den Kinderchor zu komponieren. Das neue Stück greift dann das Original musikalisch auf, kann aber auch ganz neue Teile einbinden. Wichtig ist, dass es so gestaltet ist, dass es voraussetzungsfrei für alle Schülerinnen und Schüler sowie für die Lehrenden machbar ist. Dieses Jahr haben wir uns für „Gloria“ von Antonio Vivaldi entschieden, für das der Komponist Karsten Gundermann sein Werk „reflecting gloria“ für den Kinderchor geschrieben hat.

Wie kann die Akademie den Lehrern beim Einstudieren des Stückes zur Seite stehen?

Nach einem gemeinsamen Start-Workshop, bei dem die Lehrenden passende Gesangsübungen lernen und spezielles Arbeitsmaterial bekommen, gehen sie direkt an die Arbeit in ihren Klassen. Dabei werden sie von einem künstlerischen Team über einen Zeitraum von mehreren Monaten immer wieder besucht und ganz konkret vor Ort unterstützt. Die Lieder sind ja oft für alle Beteiligten noch ungewohnt. Deshalb gibt unsere Kinderchorleiterin Sabine Layer Tipps dazu, wie man sie einüben kann, und unsere Stimmbildnerinnen erklären, welche Herangehensweise bei Kinderstimmen sinnvoll sind.

Was macht es mit einem Siebenjährigen, der gerade noch „Alle Kinder lernen lesen“ geträllert hat und jetzt auf einmal im Chor Vivaldi singt?

Es ist unheimlich berührend. Die meisten dieser Kinder sind ja überhaupt nicht mit klassischer Musik sozialisiert, sondern hören zuhause Pop oder kommen aus einem Kulturkreis, in dem nochmal ganz andere Musik gespielt wird. Aber durch die intensive Beschäftigung mit klassischer Musik kann sie für sie eine große Kraft entwickeln. Sie können dann auch sehr schnell differenzieren und zum Beispiel sagen: „Ich finde das eine Lied mit der Trompete so schön“. Die Aussage eines Kindes kommt mir gerade in den Sinn. Es hatte vor dem Projekt noch nie von Bach gehört und sagte eines Tages ganz ehrfürchtig: „Der hat ja die Musik erfunden!“.

Bei dem anderen Projekt, BachBewegt! Tanz!, studieren Jugendliche unter der Leitung der Tänzerin Friederike Rademann eine Choreografie ein. Wieso setzen Sie bei dieser Altersgruppe auf Bewegung, um mit Klassik in Berührung zu kommen?

Zum einen ist das ein praktischer Grund: Viele der männlichen Jugendlichen kommen in dieser Zeit in den Stimmbruch und da muss man sehr vorsichtig damit sein, wie und was man singt. Vor allem aber haben wir beobachtet, dass Jugendliche nach dem Motto leben: Gefühl geht durch den Körper. Sie drücken sich sowieso die ganze Zeit körperlich aus, beispielsweise durch Skateboarden, Hip Hop oder Breakdance – warum sollte man sich dann nicht auch der Klassik auf diese Weise nähern?

Brauchen sie dazu eine tänzerische Vorbildung?

Nein, wir arbeiten bei diesem Projekt mit der Methode des Community Dance, die davon ausgeht, dass jeder ein kreatives Potenzial in sich trägt, das zum Blühen gebracht werden kann. Und zwar ganz egal, ob er eine tänzerische Vorbildung hat oder nicht. Diese Niederschwelligkeit ist uns bei beiden Projekten sehr wichtig: Jeder kann vorbehaltlos mitmachen – was konsequenter Weise auch für Schülerinnen und Schüler aus Integrations- oder Förderklassen gilt. Natürlich geht Frau Rademann mit einer choreografischen Absicht ran, aber dabei ermächtigt sie die jungen Tänzer und Tänzerinnen auch dazu, Eigenes zu entwickeln. Es ist faszinierend zu erleben, was da für eine Kreativität freigesetzt werden kann.

Und über das Körperliche werden sie auch im Inneren von der Musik berührt?

Ja, die körperliche Auseinandersetzung mit dem Werk, die ja bei diesem Projekt immerhin fast ein dreiviertel Jahr dauert, bringt auch eine seelische Erfahrung mit sich. Die Jugendlichen eignen sich das Werk auf eine Art an, die man mit Konzertbesuchen alleine nicht erreichen kann. Diese Nachhaltigkeit ist uns wichtig.

Dieses Jahr studieren Sie Mozarts Requiem ein, ein Werk, das im Angesicht des Todes viele Emotionen verhandelt. Wie bereiten Sie die Schüler inhaltlich auf diesen Themen vor?

Unsere Dramaturgin gibt hier von Anfang an Input an die Teilnehmenden. Es gibt gemeinsame Intensiv-Proben für alle teilnehmenden Schulen, bei denen das Werk in seiner geistlichen, geistigen und inhaltlichen Dimension behandelt wird. Aber auch in den individuellen Proben der einzelnen Klassen setzen sich die Jugendlichen immer wieder mit dem Kontext und der Entstehungsgeschichte des Werks auseinander.

Der Höhepunkt der beiden Projekte sind sicherlich die großen Aufführungen, bei denen die Kinder und Jugendlichen von der Gaechinger Cantorey, also dem Chor und dem Orchester der Bachakademie, begleitet werden. Zu spüren, dass man mit seiner Stimme oder seinem Körper so ein Ereignis ausrichten kann, ist bestimmt ein besonderes Erlebnis.

Ja, die mitwirkenden Schülerinnen und Schüler sind stolz darauf, nach den mehrmonatigen Proben, die ja auch Disziplin und Durchhaltevermögen erfordert haben, etwas derart künstlerisch Hochwertiges erarbeitet zu haben. Sie stehen als Protagonisten auf der Bühne und auch als Zuhörer, wenn etwa ein professioneller Solist direkt neben ihnen die Stimme erhebt. Sie sind Teil des großen Kosmos von Konzert und Klassik geworden und haben die Scheu davor verloren.

Wie könnten Eltern frühzeitig dafür sorgen, dass diese Scheu erst gar nicht aufkommt?

Forschungsergebnisse zeigen, dass die Art und Weise, wie die Eltern selbst mit Musik umgehen, für Kinder sehr prägend ist. Schön ist, wenn Musik nicht nur als etwas wahrgenommen wird, das im Hintergrund läuft, während die Spülmaschine ausgeräumt wird. Sondern wenn man sich auch wirklich mal in Ruhe ein Stück anhört.

Dieses Hören muss vermutlich auch erst einmal geübt werden.

Ja, und dazu muss man gar nicht immer ins Konzert gehen. Genau zuzuhören macht auch schon bei einem Spaziergang  durch den Wald Spaß. Wenn man da mal darauf achtet, von welchen Klängen man umgeben ist, hört man danach auch Musik ganz anders. In anderen Kulturkreisen wird nach wie vor zuhause deutlich mehr gesungen und musiziert, als das bei uns aktuell der Fall ist. Es wäre toll, wenn auch bei uns ein zunehmendes Bewusstsein dafür entstünde, wie wichtig und bereichernd Musizieren, also die Auseinandersetzung mit dem Klang und auch mit dem gemeinschaftlichen Tun, für uns Menschen ist.

Schließt das auch das Erlernen eines Instruments ein?

Ich denke, es ist toll, wenn man entdeckt, dass man mit einem Instrument Klang produzieren und gestalten kann und immer mehr aus ihm herausholen kann, je mehr man sich mit ihm beschäftigt. Ob daraus dann eine Passion für Jazz, Independent oder Klassik wird, finde ich persönlich gar nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass durch das Erlernen eines Instrumentes ein Zugang zur eigenen musikalischen Kreativität und ein Bewusstsein für den emotionalen Reichtum von Musik entsteht.

Das ist einfach ein wunderbares Geschenk, das wir unseren Kindern, wenn irgend möglich, machen sollten.

Ein Portrait von Musikvermittlerin Nina Amon, deren Haare vor dem schwarzen Hintergrund nach hinten geweht werden.
©Nina Amon

Zur Person:

Nina Amon, Sängerin und Musikvermittlerin, arbeitete als Solistin bereits mit Dirigenten wie Gerd Albrecht, Kent Nagano und Christian Thielemann zusammen. Daneben entwickelte sie Vermittlungsprojekte für zahlreiche Häuser und Ensembles und war als Dozentin für Konzertpädagogik tätig. Aktuell konzipiert sie neue Vermittlungsformate u.a. für die Elbphilharmonie Hamburg und betreut die Musikvermittlung der Internationalen Bachakademie Stuttgart.

BachBewegt! Internationale Bachakademie Stuttgart, Johann-Sebastian-Bach-Platz, S-West, Tel. 0711-619210, www.bachakademie.de.