
Leben mit einem schwerbehinderten Kind - ein Vater berichtet
Das Leben des Fotografen Arnold Schnittger veränderte sich mit der Geburt seines Sohnes Nico. Seitdem pflegt er seinen schwerstbehinderten Sohn und setzt sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Wir sprachen mit ihm über Höhen und Tiefen, die Probleme, die Eltern behinderter Kindern mit Behörden haben und seinen Verein Nicos Farm.
Herr Schnittger, erzählen Sie uns ein wenig von Ihrem Sohn Nico. Wo liegen seine Schwächen, was sind seine Stärken?
Nico ist mehrfach, körperlich und geistig, schwerbehindert. Vermutlich hat er bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen. Die Diagnose lautet infantile Zerebralparese, also eine Schädigung des Gehirns. Er kann nicht laufen und nicht sprechen.
Aber er kann, nun komme ich zu den vielen Stärken, er kann sich unglaublich freuen. Er ist glücklich und zufrieden und zeigt uns immer wieder die „kleinen Wunder am Straßenrand“, die wir längst nicht mehr wahrnehmen. Er ist zärtlich und liebevoll, dass einem schwindelig wird. So viele Gedanken, wenn ich an meinen Jungen denke. Und mein Herz ist übervoll. Freude, Demut und Dankbarkeit erlebt man vielleicht bewusster, wenn man ein Kind mit Behinderungen versorgt.
Wie war das für Sie, als Sie erfahren haben, dass Ihr Sohn sein Leben lang geistig und körperlich behindert sein wird?
Wir hatten die Gnade, dass wir uns nur allmählich mit dem Gedanken, unser Sohn ist behindert, vertraut machen mussten. So blieb uns die Schockstarre erspart. Wir konnten das Ausmaß der Behinderung auch noch nicht ahnen. Bis zu seinem sechsten Lebensmonat hatte Nico sich völlig normal entwickelt. Erst als er in die „Krabbelphase“ kam, bemerkten wir, dass er zumindest etwas entwicklungsverzögert war. Trotz der Frühförderungen wurde dann der Abstand zu gleichaltrigen Kindern immer größer. Bis wir und auch die Ärzte die Tragweite, nämlich Schwerstbehinderung, erkennen konnten, vergingen ein paar Jahre.
Hatten sie damals eine Vorstellung, was auf Sie zukommt?
Es war glücklicherweise nicht absehbar und es gab auch aus therapeutischer Sicht keine Prognosen. Nicht absehbar war auch die fehlende Unterstützung von Behörden, die uns dann im weiteren Verlauf erheblich zugesetzt hat.
Nachdem Nicos Mutter selbst schwer erkrankte, mussten Sie sich zunächst alleine um ihn kümmern. Wie haben Sie das organisiert?
Die Schwierigkeit bestand darin, Pflege und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Der Tagesablauf war geprägt von der Kindertagesstätte, zu der ich Nico morgens brachte, nachmittags gegen 13 Uhr wieder abholte, um dann den Rest des Tages mit Physio- und Ergotherapie, sowie mit Nicos Versorgung zu verbringen. Als freier Fotograf konnte ich meine Arbeit ansatzweise, manchmal auch gemeinsam mit Nico ausführen. Aber das ging natürlich nicht lange gut und dann ging das Theater mit den Behörden los. Es kommt mir im Nachhinein noch immer wie ein schlimmer Traum vor und ich bin noch heute fassungslos, wie würdelos mit Menschen, die einen Angehörigen pflegen, umgegangen wird. Es hat sich überhaupt nichts verbessert. Dabei spielt das Jobcenter, das weiß ich nun aus eigener Erfahrung, eine ganz besonders unrühmliche Rolle. Hartz-IV, weil man einen Menschen pflegt, und seine eigenen Rücklagen für das Alter aufbrauchen muss, bevor man Leistungen erhält – das kann man eigentlich nur noch als erbärmlich bezeichnen.
Nico lebt seit seiner Geburt bei Ihnen. Haben Sie sich manchmal überlegt, ob es nicht besser wäre, ihn in einer speziellen Einrichtung betreuen zu lassen?
Nico lebt noch weiterhin bei uns im Haushalt. Eine Heimunterbringung kam nie in Frage. Obwohl die Behörden alles getan haben, um so eine Entscheidung zu erleichtern. Aufgrund seiner geistigen Behinderung ist Nico noch immer auf dem Niveau eines Kleinkindes. Die Nestwärme und die Liebe, die er benötigt, kann ihm nur eine Familie geben. Aber wir wissen auch, dass der Tag kommen wird, kommen muss, an dem wir ihm eine Möglichkeit geben müssen, seinen eigenen Weg zu gehen.
Warum haben Sie den Verein Nicos Farm e.V. gegründet und was genau ist das Ziel dieses gemeinnützigen Vereins?
Die Sorge, was wird aus meinem Kind, wenn ich nicht mehr die Kraft habe, es zu pflegen oder wenn ich eines Tages nicht mehr am Leben sein werde, verbindet mich mit allen Eltern, die ein behindertes Kind haben. Angetrieben von dieser Angst um die spätere Zukunft von Nico habe ich den gemeinnützigen Verein „Nicos Farm e.V.“ gegründet. Nicos Farm ist ein Wohnprojekt, in dem Eltern gemeinsam mit ihren behinderten Kindern leben. Ziel des Projektes ist es, diesen Familien das Leben durch die Gemeinschaft zu erleichtern und einen Ort zu schaffen, an dem die Kinder auch im Erwachsenenalter bleiben und nach ihren Möglichkeiten wirken können.
Sie haben Ihre eigene Art entwickelt, für die Rechte von Nico und anderen Schwerbehinderten zu kämpfen. Alles begann mit einem Protestmarsch von Hamburg nach Berlin mit Nicos leerem Rollstuhl. Konnten Sie damit auf Ihr Anliegen aufmerksam machen?
Nachdem wir in Hamburg ein wunderschönes Grundstück für unser Projekt gefunden hatten, mussten wir schmerzlich erfahren, dass unser Vorhaben vom Senat und auch von den Behörden in keiner Weise unterstützt wurde. Weil wir mehrere Jahre hingehalten wurden und einige Eltern, wir waren damals 20 Familien, bereits ziemlich verzweifelt waren, bin ich im Winter, deshalb war auch der Rollstuhl leer, von Hamburg nach Berlin gelaufen. Das Medienecho war groß, ich habe mit zahlreichen Politikern und Politikerinnen gesprochen, musste aber feststellen, dass Kinder, insbesondere Kinder mit Behinderungen, keine Lobby haben. Man kennt uns inzwischen, aber die Hilfe bleibt dennoch aus.
Seitdem bin ich mehrfach, nun meist gemeinsam mit Nico, gewandert, um auf die Probleme von Eltern mit behinderten Kindern, aber auch auf die recht würdelose Pflegesituation in Deutschland hinzuweisen.
Zuletzt wanderten Sie zusammen mit Nico im Rollstuhl von Flensburg bis zum Bodensee. Ihre Eindrücke und Erfahrungen sind in Ihrem Buch „Ich berühr den Himmel“ nachzulesen. Was war für Sie eine besondere Erfahrung oder auch Begegnung auf dieser Wanderung?
Die Wanderungen haben ja stets den Anspruch, Aufmerksamkeit zu bekommen, zu informieren und Mut zu machen. Aufmerksamkeit mit der Botschaft: „Ihr seid alle Betroffene, wer es heute noch nicht ist, wird der Betroffene von morgen sein! Deshalb sind alle gefordert, sich zu empören, gegen ein Pflegesystem, das Profitorientierung und nicht Menschenwürde auf die Fahnen geschrieben hat.
Und wir wollen Mut machen und die Betroffenen ermuntern, sich zu empören und zu beschweren. Und selbstbewusst ihre Forderungen einzubringen. Ich bin, insbesondere auf der letzten Wanderung, vielen Politikern begegnet, bei denen ich offene Türen „eingewandert“ bin. Dennoch passiert nichts. Das macht mich ratlos. Viele Betroffene, die mit gewandert sind, haben mir ihre Lebens- und Leidensgeschichten berichtet. Das hat mich oftmals extrem berührt. Menschen, die ihre Lieben versorgen und betreuen, die aus Liebe alles aufgeben, und die manchmal unsäglich behandelt werden. Solche Schilderungen gehen mir schon manchmal sehr an die Nieren. Aber ich bin auch vielen Menschen begegnet, die mich in ihrer Fröhlichkeit berauscht haben.
Wird es weitere Wanderungen oder andere Projekte geben?
Da ich noch lange nicht am Ziel bin, werde ich wohl noch einige Kilometer abreißen müssen. Ein neues Projekt, dem ich mich gerade widme, ist ein barrierefreies Hausboot, das ich bauen möchte. Ich bin ja auch Diplom-Segellehrer, kenne mich ein wenig mit Backbord und Steuerbord aus und finde es schade, wenn Kinder keinen Wassersport betreiben können, weil sie im Rollstuhl sitzen.
Mit Nico, der ein großer Seemann vor dem Herrn ist, geht das Segeln leider nicht mehr. Weil er stets wehmütig aufs Meer schaut, wenn wir an den Hamburger Landungsbrücken sitzen, hat er mich zu einem neuen Projekt inspiriert. Ich hoffe, möglichst bald mit vielen ehrenamtlichen Helfern mit dem Bau eines Hausbootes beginnen zu können. Derzeit bemühe ich mich, über Stiftungen und Spenden an die finanziellen Mittel zu gelangen. Auf der Dove-Elbe werden wir den Kindern dann die schönsten Ankerplätze zeigen, die wir hier in Hamburg haben.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihres Sohnes Nico und anderer Kinder mit Behinderung?
Ich wünsche meinem Sohn und auch allen Menschen mit Behinderung, die Zuwendung und Pflege benötigen, ein Leben voller Liebe und Zuneigung und eine weitgehend autonome Lebensführung, soweit es im Bereich des Möglichen ist. Ich wünsche mir, dass die profitorientierte Ablehnungskultur von Krankenkassen und Behörden einem menschenorientierten, würdevollen Umgang mit den Betroffenen weicht. Ich wünsche mir eine Solidarität aus dem Gedanken heraus, dass jeder zu jeder Zeit betroffen sein kann. Ich wünsche mir, dass Inklusion nicht mehr nur ein Wort ist und, dass wir auf diesen Begriff eines Tages vielleicht verzichten können.
Zur Person
Arnold Schnittger, Gründer und Vorsitzender des Vereins Nicos Farm e.V., www.nicosfarm.de