
Erste Hilfe für Eltern mit Schreibabys
Alle Babys schreien, aber manche mehr als andere. Eltern von sogenannten „Schreibabys“ fühlen sich oft ohnmächtig und zweifeln an ihren Fähigkeiten. Sich nicht zurückzuziehen, sondern Hilfe zu suchen, kann der erste Schritt zur Besserung sein.
Ein helles Eckcafé. Draußen laufen junge Eltern mit bunten Rucksäcken zu Kindergärten und Kitas, die kleineren Kinder im Buggy, die größeren mit Laufrädern vorneweg. Drinnen sitzt Judith*, vor sich eine Tasse Kaffee, neben sich den Kinderwagen mit ihrem schlafenden Kind. Ein ganz normales Bild? Entspannte Mama, die ihre Zeit mit ihrem Baby genießt? Nicht ganz. Im Kaffeetrinken mit Baby ist Judith noch nicht so geübt, wie das nach außen hin den Anschein macht.
Oscar, der jetzt neben ihr im Kinderwagen liegt, ist ihr zweites Kind. Und obwohl nicht mal die laute Espressomaschine am Tresen seinen Schlaf beeindrucken kann, scheint es, als könne Judith dem Frieden nicht so ganz trauen. Sie wirkt ein bisschen auf dem Sprung, so, als könne die Ruhe gleich ein jähes Ende haben. „Ich kann heute immer noch nicht gut damit umgehen, wenn ich mein Baby schreien höre“, erzählt sie. „Dann geht sofort wieder alles los, Schweißausbrüche, Herzrasen, der ganze Stress.“ Doch mit Oscar, der unter seiner Decke im Kinderwagen schlummert, hat das eigentlich gar nichts zu tun.
Judiths erstes Kind Jacob war ein sogenanntes „Schreibaby“. Die ersten zehn Monate seines Lebens schrie er täglich über mehrere Stunden und das, obwohl er gewickelt, gefüttert und geborgen war und der Kinderarzt keine körperlichen Probleme feststellen konnte. Heute ist Jacob fast fünf Jahre alt und ein „witziges und aufgewecktes Kerlchen“. Doch die Erinnerungen an die erste Zeit mit ihm hallen bei Judith immer noch nach: „Das ist wie eine Wunde, die noch schmerzt“, erzählt sie. „Ich stand mit Jacob immer nur oben am Fenster meiner Wohnung und habe runter auf dieses Café hier geschaut, neidisch auf die Mütter, die sich hier trafen und austauschen konnten, während mein Baby rund um die Uhr schrie. Ich habe mich so alleine gefühlt und an meinen Fähigkeiten als Mutter gezweifelt. Und manchmal habe ich richtige Aggressionen gegen Jacob entwickelt. Das hat mich erschrocken. Denn eigentlich war ich doch voller Liebe für ihn.“
Drei Stunden am Tag, drei Tage die Woche, drei Wochen am Stück
Alle Babys schreien. Es ist ihre Art zu kommunizieren, ob sie Hunger oder Schmerzen haben, schlafen, kuscheln oder gewickelt werden wollen. Aber manche Babys schreien mehr als andere und das, obwohl ihre Bedürfnisse gestillt sind und es keine organische Ursache dafür gibt. 1954 formulierte der amerikanische Arzt Morris Wessel eine Regel, mit der er das exzessive Schreien im Säuglingsalter diagnostizierte. Die sogenannte Dreier-Regel, später als Wessel Criteria nach ihm benannt, besagt, dass man von einem Schreibaby spricht, wenn es mindestens drei Stunden am Tag, drei Tage die Woche und drei Wochen am Stück schreit.
Die genauen Ursachen für das unstillbare Schreien sind bis heute nicht geklärt. Als veraltet gilt die Vermutung, sogenannte Drei-Monatskoliken könnten dahinter stehen, also Bauchschmerzen und Blähungen, unter denen der Säugling aufgrund seines noch nicht ausgereiften Magen-Darm-Traktes leidet. Der aufgeblähte Bauch, meint man heute, sei eher Folge als Ursache des Schreiens, da der Säugling beim Schreien viel Luft schlucke.
Heute geht man in erster Linie davon aus, dass Schreibabys sensibler auf die Reize ihres Körpers und ihrer Umwelt reagieren und noch nicht gelernt haben, sie auszublenden, sobald sie ihnen zu viel werden. Einmal überreizt, fällt es ihnen schwer, sich selbst zu beruhigen. Stattdessen brauchen diese Babys dazu viel Körperkontakt, auch, um in den Schlaf zu finden und ein Weilchen durchzuschlafen. Regulationsstörungen nennen Fachleute diese Schwierigkeiten, sich seinem Alter entsprechend selbst zu beruhigen. Schätzungen gehen davon aus, dass 20 Prozent aller Säuglinge Schreibabys sind.

Regulationsstörungen
Lena Neuburger sieht diese Zahl kritisch. Sie arbeitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Psychoanalytikerin in der Psychotherapeutischen Babyambulanz Stuttgart. Ihrer Meinung nach fehlt der Dreier-Regel ein wichtiges Kriterium: Der individuelle Belastungsgrad der Eltern. „Sie können am Rande des Nervenzusammenbruchs sein, auch wenn das Ausmaß des Schreiens ihres Kindes nicht die Kriterien von Wessel erfüllt. Es gibt Eltern, die ertragen das Schreien gut, und Eltern, die es aus verschiedenen Gründen nicht können.“ Die Ursachen des Schreiens und das Ausmaß der familiären Belastung gemeinsam mit den Eltern zu verstehen, ist das Ziel der Beratung der psychotherapeutischen Babyambulanz.
Schreiambulanzen gehen ganz unterschiedlich an das exzessive Schreien heran. Manche arbeiten verhaltenstherapeutisch und bieten etwa Beratungen zur Gestaltung des Tagesablaufes oder Schlaftrainings für Babys an. Die Babyambulanz, in der Lena Neuburger in einem Team von fünf Kolleginnen arbeitet, nähert sich dem Problem psychoanalytisch. „Es ist für viele Eltern sehr entlastend, wenn sie zu uns kommen und erfahren, dass es jemanden gibt, der das Schreien mit ihnen aushält und zu verstehen versucht“, sagt sie. „Bei uns allen klingeln ja die Alarmglocken, wenn wir einen Säugling schreien hören. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, wie man dieses Schreien erlebt: Ist es hilfesuchend oder vorwurfsvoll? Erlebe ich es möglicherweise als Beweis dafür, dass ich eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater bin? Das, was Eltern aus dem Schreien heraus hören, kann auch untrennbar mit ihrer eigenen Geschichte verbunden sein, damit wie ihr Schreien als Baby gehört wurde.“
Hochsensibel – High Need?
Deshalb findet es Lena Neuburger auch wenig hilfreich, das Schreien mit Kategorien wie „hochsensiblen“ oder besonders fordernden und bedürftigen „High Need“ Babys erklären zu wollen. „Klar gibt es Säuglinge, die sehr reizoffen und sensibel sind. Doch mit Kategorien wie diesen schreiben wir das Problem dem Baby alleine zu. Am Ende ist aber das Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind entscheidend.“
Gibt es da vielleicht eigene, schmerzhafte Kindheitserfahrungen, die im Kontakt mit dem Baby wieder spürbar werden, fragt Neuburger. Erzeugen Partnerschaftsprobleme Spannungen, die auch dem Kind nicht entgehen? Oder legen sich Belastungen vor, während und nach der Geburt wie ein Schatten über die Beziehung von Mutter und Kind – eine problematische Schwangerschaft, ein Geburtstrauma, eine frühe Trennung? Sich im Gespräch über solche Probleme bewusst zu werden, kann oft in wenigen Stunden schon viel bewirken, meint Neuburger. Wenn sich die Eltern in der sensiblen Anfangszeit mit ihrem Kind selbst „gehalten und verstanden“ fühlten, könne anstelle eines Schuldgefühls wieder ein Vertrauen in sich wachsen. „Dadurch können sie dann auch ihrem Säugling wieder feinfühlig begegnen und lernen, sein Verhalten richtig zu „lesen“.“
Judith bereut es heute, damals nicht schon viel früher Hilfe in Anspruch genommen zu haben. „Ich hatte keinen Funken mehr übrig von dieser vielbeschworenen mütterlichen Intuition. Ich fühlte mich so ohnmächtig und dachte, mein Kind mag mich einfach nicht. Da war es so wohltuend, plötzlich gesagt zu bekommen: Sie machen nichts falsch, im Gegenteil. Sie sind mit ihren Kräften am Ende und stehen trotzdem noch – das ist toll. Da fühlte ich mich endlich nicht mehr wie eine komplette Versagerin. Und von da an ging alles besser.“
*Namen geändert./der Redaktion bekannt
-Anlaufstellen für Eltern von Babys mit exzessivem Schreiverhalten:
-Psychotherapeutische Babyambulanz: 0711-64 85 221
-Baby-Sprechzeit im Olgahospital: 0711-278 727 60
-Pflegerische Elternberatung im Olgahospital: 0711-278 73 100