Einnässen bei Kindern

01.11.2019

Das „Einnässen“ bezeichnet einen unfreiwilligen Urinverlust, der sowohl am Tag als auch in der Nacht auftreten kann. Bis zum fünften Lebensjahr ist es noch völlig normal, dass ein Kind hin- und wieder einnässt. Ist das Kind älter, so können ein Reihe von Ursachen dahinter stecken. Was tun, wenn ein Kind einfach nicht „trocken“ wird oder nach einer längeren windelfreien Phase plötzlich wieder einnässt?

Johannes Schwarz* ist sieben. Zum Zeitpunkt der Einschulung ist er anders als viele seiner Altersgenossen nicht vollständig „trocken“. Nachts und tagsüber hat er Probleme mit der Urinkontrolle, nässt zwar nicht so häufig richtig ein, verliert aber immer wieder ein bisschen Urin. Die Eltern haben bereits einen Kinderurologen aufgesucht. Dieser stellt eine zu kleine Blase fest und verschreibt ein Medikament. Die Eltern sind verunsichert, dass der Arzt gleich zu einem Medikament mit Nebenwirkungen greift. Sie entscheiden sich gegen eine medikamentöse Behandlung und versuchen, das Problem zu verbergen, aus der Angst heraus, ihr Sohn könnte in der Grundschule ausgeschlossen werden. Sie kaufen entsprechende Kleidung, bei der das Einnässen nicht auffällt. An langen Schultagen wird Johannes Unterhose mit einer Damenbinde versehen.

Das Problem ist damit allerdings nicht gelöst. Zuhause herrscht eine angespannte Stimmung, weil die Wäscheberge überhand nehmen und sich keine Besserung einstellt. Johannes geht ungern auf die Toilette, regelmäßig gibt es deswegen Streit. Was kann Johannes Familie tun, um das Problem in den Griff zu bekommen? Müssen Eltern, die sich ärztlich beraten lassen, immer mit einer medikamentösen Behandlung rechnen?

Einnässen ist nicht selten

Die Regale in Drogeriemärkten sind voll an Windeln für Kinder im Grundschulalter. Trotzdem ist das Thema tabuisiert, der soziale Druck enorm. Die Deutsche Kontinenz Gesellschaft gibt an, dass das Einnässen bei Kindern die zweithäufigste Erkrankung nach Allergien und das häufigste urologische Symptom ist. Aber wer will schon zugeben, dass Kind und Eltern es nicht „geschafft“ haben, das Kind windelfrei einzuschulen?

Experten raten von rigorosem „Töpfchen-Training“ ab. Unumstritten ist, dass verschiedene Voraussetzungen beim Kind vorliegen müssen, damit es seine Ausscheidungen kontrollieren kann. Trotzdem besteht von Seiten einiger Eltern immer noch die Erwartung, dass Kinder mit dem Übergang in den Kindergarten keine Windel mehr haben sollten. Laut einem Artikel im Ärzteblatt nässen zehn Prozent der Siebenjährigen nachts ein, immerhin zwei bis sieben Prozent auch tagsüber. Trotzdem ist es für die betroffenen Familien oftmals eine langwierige psychische Belastung.

Gründe für das Einnässen

Viele wissen nicht, dass die Gründe für das Einnässen zahlreich und eher selten psychologischen Ursprungs sind. Je nachdem, wann und wie häufig ein Kind unwillkürlich Urin verliert, können Trinkgewohnheiten, tiefer Schlaf, eine kleine Blasenkapazität oder selten die mangelhafte Ausschüttung des antidiuretischen Hormons ursächlich sein.

Die Verhaltensbiologin Dr. rer. nat. habil. Gabriele Haug-Schnabel forscht seit Jahren zur Ausscheidungsautonomie bei Kindern. Sie betont, dass genetische Dispositionen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf haben können, wann Kinder „trocken“ werden. Es spiele vor allem eine Rolle, wann der Vater des Kindes ausscheidungsautonom geworden sei. Weltweite Studien würden außerdem belegen, dass Kinder, die extrem früh sprechen lernten, oftmals länger eine Windel brauchen. Bei solchen Kindern würde die Sprachentwicklung lange Zeit einen Großteil der Aufmerksamkeit fordern. Generell wird unterschieden, ob Kinder nur nachts oder auch tagsüber einnässen.

Nässt ein Kind nach einer längeren windelfreien Phase wieder ein, können die Ursachen psychologischen Ursprungs sein. So erging es Familie Wegener* aus Stuttgart. Sohn Ludwig war beinahe zwei Jahre vollständig windelfrei, als er nach der Trennung der Eltern von heute auf morgen wieder stark einzunässen begann. Die Mutter nahm anfangs eine abwartende Haltung ein. Bei einer Mutter-Kind-Kur riet eine Therapeutin dazu, mit dem Sohn eine Kindertherapeutin aufzusuchen, um den Ursachen des wiederholten Einnässens auf die Spur zu kommen. Gemeinsam mit ihr gelang es Mutter und Kind, durch eine Kombination verschiedener verhaltenstherapeutischer Maßnahmen nach vielen Monaten das Problem in den Griff zu bekommen.

Wann behandeln?

Das Sozialpädiatrische Zentrum des Olgahospitals in Stuttgart (SPZ) betreut einnässende Kinder schwerpunktmäßig im höheren Kindergarten- bis zum Grundschulalter. Dr. med. Barbara Ladwig, Oberärztin im SPZ, empfiehlt, ein Einnässen ohne anderweitige Ursachen ab einem Alter von fünf Jahren zu behandeln, abhängig vom Leidensdruck des Kindes. Seltenes nächtliches Einnässen sei bis sechs Jahre im Rahmen der normalen Entwicklung.

Auch Haug-Schnabel rät dazu, die Ursachen ärztlich abklären zu lassen. Sie ist sich sicher, dass auch das nur nächtliche Einnässen für die meisten Kinder eine Belastung sei, spätestens dann, wenn eine Übernachtung im Kindergarten oder in der Grundschule ansteht.

Wo behandeln?

Das SPZ ist eine kompetente Anlaufstelle für Eltern aus der Region Stuttgart. „Unsere Vorgehensweise hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Von der Art des Einnässens, beispielsweise nur nachts und/oder auch tagsüber, häufig oder selten, viel oder wenig, schon immer oder wieder auftretend nach längerer Phase der Urinkontrolle. Auch wichtig ist, wie das Trinkverhalten ist,  ob zusätzlich eine Verstopfung vorliegt oder  andere organische oder auch psychische Gründe für das Einnässen zu finden sind. Das muss zuerst alles geklärt werden, manchmal in Kooperation mit dem betreuenden Kinderarzt oder anderen Abteilungen des Olgahospitals“, so Ladwig.

„Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Therapieansätze: Immer wichtig ist eine Information, Aufklärung und Begleitung der Eltern, vor allem aber auch der Kinder. Oft kommen verhaltenstherapeutische Maßnahmen zum Einsatz, gegebenenfalls kombiniert mit apparativen Möglichkeiten, beispielsweise einer Klingelhose beim nächtlichen Einnässen. Seltener werden medikamentöse, physiotherapeutische oder andere Interventionen notwendig.“

Gabriele Haug-Schnabel verweist auf ihrer Homepage auf ihre Einnässberatung. Diese ist auch telefonisch möglich. Die Kosten werden oftmals von den Krankenkassen übernommen. Nicht selten hat sie es mit Eltern zu tun, die bereits einen regelrechten Marathon hinter sich haben.

Unterstützung durch die Eltern

Haug-Schnabel hält die Zeit um den zweiten Geburtstag für den optimalen Zeitpunkt, um mit dem Trockenwerden zu starten, da sich viele Kinder nun für die Themen „Pipi“ und „Kacka“ zu interessieren beginnen.

Eltern sollten dabei vor allem locker bleiben und ihre Kinder aufmerksam beobachten. Würden diese Anzeichen zeigen, auf die Toilette zu müssen, solle man nicht fragen: „Musst du etwa auf die Toilette?“, sondern dem Kind unterstützend Hilfe anbieten und sagen: „Du musst zur Toilette, ich helfe dir.“ Positiv würde es sich auswirken, ein Bilderbuch mit auf die Toilette zu nehmen. Das Kind würde sich dann eher Zeit lassen und seine Blase wirklich vollständig entleeren. Haug-Schnabel hält es auch für wichtig, dass Eltern ihren Kindern ein Vorbild sind, indem sie auf ihre eigenen Toilettengänge hinweisen, etwa mit: „Jetzt muss ich erst ganz dringend auf die Toilette, bevor wir weiter spielen.“

Wichtig ist, dass die Eltern locker bleiben und dem Kind möglichst keine Vorwürfe machen, wenn es länger braucht, bis es bereit ist, auf die Toilette oder das Töpfchen zu gehen. Die meisten Eltern nehmen den richtigen Zeitpunkt intuitiv wahr. Manche brauchen dafür einfach länger als andere. Wenn ein Kind bis ins Grundschulalter eine Windel braucht oder nach einer längeren windelfreien Phase wieder einnässt, ist es sicherlich sinnvoller, die Ursachen abklären zu lassen, bevor das Problem innerhalb der Familie zum Streitthema wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass zu dem eigentlich organischen, entwicklungsbedingten oder auch psychischen Problem zusätzlich Machtkämpfe entstehen und der Toilettengang an sich ein Problem darstellt, ist sonst umso mehr gegeben.

*Namen geändert, das Kind und seine Familie sind der Redaktion bekannt