
Eine Schule hat sich auf den Weg vom Lehren zum (digitalen) Lernen gemacht
In der Laudatio ist zu lesen: „Die Schule wird von Partnern als unkonventionell und experimentierfreudig beschrieben“.
Schülerinnen würden am liebsten ganz in die Schule ziehen. Zudem ist die Schule erstaunlich gut durch die Coronakrise gekommen, weil Kinder dort auch schon vor der Pandemie gewohnt waren, eigenständig und digital zu lernen. Wir haben mit dem Schulleitet Volker Arntz darüber gesprochen, wie es seine Schule schafft, mit unterschiedlichen Lernniveaus der Kinder umzugehen und stellen die Frage, warum die guten Ideen und Impulse der Preisträgerschulen „Deutscher Schulpreis“ nicht mehr Widerhall in der baden-württembergischen Schulpolitik finden.
Herr Arntz, hat Ihnen die Kultusministerin schon zum Deutschen Schulpreis 2020 gratuliert, der ja eine große Wertschätzung für Ihre Arbeit ist?
Mit einiger Verspätung schon. Der Brief des Ministerpräsidenten war eher da. Warum hat das so lange gedauert? Vielleicht darf nicht sein, was nicht sein soll.
Wie meinen Sie das?
Die Ministerin tut leider wenig, um die Leistungen der (Gemeinschafts)- Schulen im Land wirklich wahrzunehmen. Wenn man erklärte Anhängerin des traditionellen dreigliedrigen Schulsystems, bestehend aus Werkrealschule, Realschule und Gymnasium ist, kann man nicht über Erfolge der Gemeinschaftsschule, die diese drei Schularten miteinander vereint, sprechen, sonst würden man die Dreigliedrigkeit in Fragen stellen. Und: Wenn sie mit Leuten wie mir, also den Schulpraktikern, sprechen würde, könnte es sein, dass diese tatsächlich etwas zu sagen hätten. Die Kultusministerin versteht unter Kommunikation aber in der Regel, dass wir lediglich „zuhören“ dürfen – One-Way!
Sie haben vor knapp zehn Jahren die Schulleitung der Hardtschule (damals noch Werkrealschule) übernommen. In welchem Zustand ?
Die Schule war zum damaligen Zeitpunkt in Stufe 5 einzügig geworden. Die Komposition der Schülerschaft hier im Ballungsraum Karlsruhe war extrem schwierig und jeder der konnte ist von der Werkrealschule geflüchtet. Als ich hier ankam, war die Situation so, dass wir uns viel mit sozialen Themen beschäftigen mussten. Lernen im eigentlichen Sinn war fast nicht mehr möglich. Die Schule befand sich in einer Negativspirale mit einem Regelkatalog ohne Haltung.
Klingt ernüchternd. Was ist dann passiert?
Es stand die Frage im Raum, ob wir die Schule abwickeln oder entwickeln. Es war klar, dass es ein „Weiter so“ nicht geben kann. Und uns war von Anfang klar, dass wir mehr Zeit für und mit den Kindern benötigen. Mehr Zeit für Gespräche und pädagogische Zusatzangebote wurden eingeführt und nach etwa einem halben Jahr änderte sich die Stimmung in der Schule allmählich. Aus der Schule wurde eine Ganztagsschule. Ein großer Schritt war dann 2013, als mit dem Koalitionsvertrag von Grün-Rot klar war, dass es zu einer neuen Schulform, der Gemeinschaftschule, kommen wird. Gegen Widerstand von Teilen des örtlichen Gemeinderats und des Bürgermeisters sind wir 2014 diesen Schritt gegangen. Das war die Initialzündung.
Warum war die Gründung zur Gemeinschaftsschule so wichtig?
Damit gab es die Chance, dass wir die Komposition der Schülerschaft ändern konnten, da sich nun Schüler mit ganz unterschiedlichen Schulempfehlungen, auch höheren Niveaus, bei uns anmelden durften. Wir wollten zudem das Neue nicht auf dem Alten aufbauen und haben die gesamte Struktur der Schule umgekrempelt. Der Blick ging weg vom „Lehren“ hin zum „Lernen“. Nur das durfte bleiben, was fürs Lernen wirklich taugt. Dinge wie der Schulgong, Strafarbeiten u.v.m. sind in Folge dieser Überprüfung rausgeflogen.
Damit war aber noch kein neues Lernmodell geschaffen?
Richtig. Es war schnell klar, dass wir neue Methoden benötigen. Wir haben uns dabei an den Lernlandschaften von Andreas Müller, vom Institut Beatenberg, einer Schule für Erziehungshilfen in der Schweiz, orientiert, der ein Modell für kompetenzrasterorientiertes Lernen entwickelt hat. Auf dieser Grundlage haben wir ein regelschulkonformes Modell geformt, das für unsere Schülerschaft angepasst ist.
Parallel dazu haben wir zusammen mit der Westermann Verlagsgruppe ein digitales Lernmanagementsystem entwickelt -Lernscape-, mit dem wir das Ganze steuern. Der Game Changer, der alles geändert hat, ist der Blick auf das Thema Asynchronität, also der Tatsache, dass Kinder in unterschiedlichen Geschwindigkeiten lernen.
Was beinhaltet der Blick auf unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten?
Wenn man anerkennt, dass Kinder unterschiedlich schnell lernen - zwischen dem schnellsten Schüler in Mathematik und dem langsamsten kann mehr als ein Lernjahr liegen! – wird schnell klar, dass der Vortrag vor der Tafel Geschichte ist. Davon muss man sich verabschieden. Dafür eröffnen sich aber neue Chancen, nämlich die, dass Kinder individualisiert und differenziert gefördert werden. Keiner fällt mehr durch, sondern jedes Kind kämpft sozusagen auf seiner eigenen Baustelle mit Unterstützung der Lerngruppe und dem Lernbegleiter.
Da der Schweinsgalopp von der Klasse fehlt, benötigt es bestimmte Hilfsmittel, wie zum Beispiel die Lerntagebücher, in denen das Lernen geplant und eine hohe Verbindlichkeit zwischen Lernbegleiter und Kind festgelegt wird. Der Lehrer kann also nicht mehr pushen und instruieren und über die Noten mit den Kindern „abrechnen“. Die neue Währung ist die Beziehung zum Lernbegleiter. Wenn dieser Prozess gut läuft, haben die Kinder die Chance, viel weiter zu kommen, als im konventionellen System.

Zur Person
Volker Arntz, 52 Jahre, verheiratet, 3 Kinder im Alter von 17, 19 und 21 Jahren.
Seit 1996 im Schuldienst. Seine Motivation zum Schulleiter „Schule neu denken und umsetzen“.
Interessen: Musik, Informatik, Organisationsentwicklung und künstliche Intelligenz.
Was macht das selbstverantwortliche und eigenständige Lernen mit den Schülern?
Die Schüler haben hier die Möglichkeit, ihren Schulalltag zu gestalten, zu konfigurieren. Je nachdem wie fit die Schülerinnen und Schüler in bestimmten Bereichen sind, kann man sich Lernzeit dazu buchen oder man hat mehr Freiheit, um zum Beispiel außerschulische Aktivitäten zu belegen, Robotik o.ä.. Hat man zum Beispiel gerade in Mathe ein Problem, bucht man sich zusätzliche Lernzeit dazu. Durch Coaches, mit denen man regelmäßig Gespräche hat und die sich auch für die persönliche Entwicklung der Schüler interessieren und durch die Lernbegleiter, die ebenfalls unterstützen, kommen die Schülerinnen und Schüler irgendwann auf die Idee, dass sie der Schule nicht egal sind und stellen sich in Folge die Frage: Wenn ich denen nicht egal bin, warum soll ich mir dann egal sein?
Hat diese Eigenverantwortung auch dazu geführt, dass Ihre Schüler vergleichsweise gut durch den Schullockdown gekommen sind beziehungsweise kommen?
Unsere Kinder sind im Prinzip im gleichen Betriebsmodus geblieben. Sie waren halt nicht räumlich in der Schule, sondern in der School@home. Während sich die meisten Schulen damit beschäftigt haben, wie die Unterrichtsinhalte zu den Kindern kommen, waren diese unseren Kindern ja schon bekannt. Sie kennen ihre Lernjobs, die in der Cloud sind und ob sie diese nun im Schul- zimmer oder zuhause abrufen, ist egal. Die Lernbegleiter waren die ganze Zeit mit den Kindern in Kontakt. Dafür haben wir innerhalb von zwei Tagen noch eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut, das hat dann prima geklappt und es kam zu keinen Beziehungsabbrüchen.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte, die ihre Schule so erfolgreich macht?
Wir nehmen unsere Kinder ernst, geben Ihnen die Chance, Gestalter ihres eigenen Lernprozesses zu sein, operieren über Beziehung und nicht über Macht und haben den Fokus vom Lehren auf das Lernen geschoben.
Warum finden die innovativen Ideen der Preisträgerschulen so wenig Widerhall in der Schulpolitik?
Wir haben in Baden-Württemberg keine Idee davon, wie Schulen aufgestellt bzw. wie sie als organisatorische Einheiten funktionieren müssen, damit sie Veränderungsprozesse hinbekommen. Es gibt meiner Meinung nach zu viel Ignoranz und Instruktion in der Schulpolitik, die uns nicht weiter bringt. Anstatt auf Staaten zu schauen, die in den OECD-Analysen weit vorne sind, wie Kanada oder Singapur, halten wir an unseren herkömmlichen Strukturen fest. Wir müssen in Baden-Württemberg mehr darüber streiten, was wir unter guter Bildung verstehen. Es macht keinen Sinn, über Methoden zu diskutieren, es macht auch keinen Sinn, über Schulformen zu diskutieren. Wenn wir wüssten, was gute Bildung ist, dann wüssten wir, was eine gute Schule ist, dann wüssten wir, was guter Unterricht und was ein guter Lehrer ist. Diese Diskussion gibt es bei uns aber nicht!
Tipps & Wissenswertes in Kürze
Im Schuljahr 2019/20 gab es 305 öffentliche Gemeinschaftsschulen im Land. Gemeinschaftsschulen sind leistungsorientierte Schulen, die Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Begabungen fördern. Jede Schülerin und jeder Schüler lernt auf dem für sie und ihn bestmöglichen Niveau und kann den Haupt-, den Realschulabschluss und wenn eine Oberstufe geführt wird, auch das Abitur ablegen.
Statt Zeugnissnoten, erhalten die Schüler einen ausführlichen Lernstandsbericht. Es gibt kein Sitzenbleiben. Durch das längere gemeinsame Lernen, erlauben Gemeinschaftsschulen eine späte Entscheidung darüber, welcher Schulabschluss angestrebt wird.
https://km-bw.de/Gemeinschaftsschule
Der Deutsche Schulpreis ist seit 2006 eine Auszeichnung, die von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung zusammen mit ARD und DIE ZEIT Verlagsgruppe an Schulen mit hervorragender pädagogischer Praxis verliehen wird. Er hat unter Bildungspreisen den höchsten Stellenwert in Deutschland. Für die Bewertung werden sechs anspruchsvolle Qualitätsbereiche herangezogen, die die Schule als leistungsorientierten Ort ansehen, aber auch als demokratischen Lebens- und Lernort wahrnehmen. Jedes Jahr werden sechs Preisträger ausgezeichnet.
www.deutscher-schulpreis.de
